Liebe Schwestern und Brüder Christi,
„Wer kein Ziel vor Augen hat, kennt auch den Weg nicht.“ Diese einfache Wahrheit steht am Anfang jeder Wanderung und jeder Reise. Welchen Weg wir nehmen, wir wir ihn gestalten und einteilen, hängt entscheidend vom Ziel ab, auf das wir zugehen und das wir erreichen möchten. Was für die vielen einzelnen Wege des Lebens gilt, das gilt auch für unseren Lebensweg im Ganzen. Gerät aus dem Blick woraufhin wir leben ist die Gefahr groß, dass sich alles in einzelnen Etappen und kleinen Schritten verliert, die aber am Ende zusammenhanglos und unverbindlich als Lebensabschnitte nebeneinander stehen.
Der Apostel Paulus ist diesbezüglich entschieden unterwegs. Er nimmt das „ewiges Haus im Himmel“ in den Blick. Dorthin ist er unterwegs. Und er schreibt es in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth nicht nur als individuelle Überzeugung, sondern auch, um die Weggemeinschaft im Glauben zu orientieren und zu motivieren, Kurs zu halten. Die Hoffnung, die ihn selbst trägt, die Erwartung, die sein ganzes Leben prägt, soll gewissermaßen auch anderen – soll auch uns – als Kompass dienen in der Landkarte des Lebenswegs, die sich oftmals so schwer lesen lässt.
Nur von dieser Grundüberzeugung, gewinnen seine Deutungen von einem „Leben in der Fremde, fremd vom Herrn“ – solange wir hier auf Erden unterwegs sind – ihren Sinn. Fremdheit besagt nicht, dass Gott der Welt fremd wäre. Wohl aber, dass wir die Erfahrung einer Entfremdung von Gott, von Mitmenschen, aber auch von uns selbst zeitlebens als Beschwernis mit uns tragen. Ebenso beschreibt Paulus den Tod als „Auswandern aus dem Leib“ – nicht, weil unsere Leiblichkeit abschätzig zu beurteilen ist, sondern weil sie im Tod zerfällt – wie ein Zelt, das abgebrochen wird. Der gelernte Zeltmacher Paulus verwendet dieses Bild aus seinem eigenen Erfahrungsschatz. Auch das bestmöglich hergestellte Zelt ist nur vorübergehende Bleibe. Im Glauben an den Herrn werden wir in diesem Abbruch aber nicht obdachlos, sondern gehen den letzten Schritt ins Endgültige hinein.
Es ist die gleiche Grundüberzeugung, die uns der Johannesevangelist in den Worten Jesu überliefert, die wir heute als frohe Botschaft gehört haben. Wer sich den Worten des Herrn anvertraut, der „ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen“. Das Wort des Herrn als lebensspendende Kraft wirkt sich nicht nur zu Lebzeiten aus, es entfaltet seine Wirkmacht gerade angesichts des Todes. „Tod“ und „Leben“, diese beiden Grundworte unsere Existenz sind auch Urkunden des Glaubens, in dem wir unseren Lebensweg gehen. „Tod“ und „Leben“ diese beiden Worte finden ihre Parallele in den Zustandsbeschreibungen, die der Apostel in der Lesung benennt: „wir seufzen“ und „wir sind zuversichtlich“. „Wir seufzen“ angesichts der Tragik unseres Lebens, das unweigerlich auf den Todeszeitpunkt zuläuft und das schon zu Lebzeiten viele schmerzhafte Abschiede und Phasen kennt, wo uns „Leben" nur unzureichend gelingt. „Wir sind zuversichtlich“, weil wir daran festhalten, dass für unsere Hoffnung und Zukunft bei Gott die eigene und fremde Einschätzung von Leistung und Fehlleistung nicht der letzte Maßstabe sind. Denn die letzte Unterscheidung in Gelingen und Misslingen, die biblisch als „Gericht“ bezeichnet werden, kennt allein den Maßstab Gottes.
Der Allerseelentag, den wir heute begehen, ist Ausdruck dieser Glaubenshaltungen. Wir glauben und hoffen nicht nur für uns, sondern auch für alle, die mit uns verbunden sind – im Leben und im Tod. Diese Praxis christlicher Hoffnung und Liebe übersteigt das Diesseits. Papst Benedikt XVI. hat das in Worte gefasst, die auch Papst Franziskus immer wieder aufgreift: „Keiner lebt allein. Keiner sündigt allein. Keiner wird allein gerettet.“
Ebenso, wie die Liebe des auferstandenen Herrn Raum und Zeit übersteigt, sind wir in seiner Nachfolge zu einer Liebe berufen, die ins Jenseits hinüberreicht. Darum ist es sinnvoll, die Gebetsgemeinschaft mit und für die Verstorbenen nicht abreißen zu lassen, gemäß den Worten: „aus den Augen – aus dem Sinn“. Nein – „Gemeinschaft des Glaubens“ und „Gemeinschaft der Heiligen“ – die wir gestern gefeiert haben – besagt, dass die Verbundenheit mit dem Tod nicht abreißt. Diese Grundüberzeugung hat christliches Leben über alle Jahrhunderte hindurch bis heute als tröstliche Erfahrung begleitet.
Alles, was wir in der traditionellen Redeweise von „Armen Seelen“, „Fegefeuer" oder „Ablass“ nur unzureichend aussagen können, verliert ohne diese Verbundenheit aller im Herrn seinen tiefsten Bezugspunkt. Wir gehen im Tod auf eine reinigende Begegnung mit dem richtenden und rettenden Herrn zu. Sein liebender Blick auf unser Leben mit allem Gelingen und Versagen wird zum Hoffnungszeichen, weil er allein unsere Herzen „durch und durch kennt“ (Röm 8,27).
Weil auch wir in der Liebe des Herrn mit den Verstorbenen über den Tod hinaus verbunden sind, hat unser Gebet für sie in Dank und Bitte – auch um Versöhnung – seinen Platz in ihrer reinigenden und heiligenden Begegnung mit Jesus. Die Feier des Allerseelentags ist in diesem Sinn auch Ernstfall unserer Nächstenliebe, die nichts und niemanden ausschließen darf. Und wahre Liebe ist immer gegenseitig – auch im Blick auf die Verstorbenen. Nie ist sie vergebens. Amen.
Dokumentation